Kundenabwanderung: „KI stößt Berater auf Fälle, die sonst unentdeckt bleiben“
27. November 2023 – Künstliche Intelligenz kann vorhersehen, wann ein Finanzberatungskunde zum Wackelkandidaten wird und seinem Berater bald die Geschäftsbeziehung aufkündigen könnte – das jedenfalls behauptet Georgios Lekkas vom Software-Anbieter Objectway. Im Interview erläutert er, wie das gelingen soll.
Spätestens seit die US-Firma Open AI ihre Sprach-KI Chat GPT einer breiten Öffentlichkeit vorstellte, ist das Thema Künstliche Intelligenz in aller Munde, auch im Business-Bereich. Unternehmen aller Branchen loten aus, wie sie mittels KI ihr Geschäft neu aufstellen können.
Auch in der Finanzberatung lassen sich vielerlei Anwendungsfälle denken. Unter anderem diesen hier: Der auf Finanzen spezialisierte Software-Anbieter Objectway will eine Möglichkeit entwickelt haben, mittels KI vorhersagen zu können, welche Kunden demnächst ihrem Berater den Rücken kehren könnten.
Wie das funktionieren soll, haben wir Objectway-Spezialist Georgios Lekkas gefragt.
DAS INVESTMENT: Herr Lekkas, Sie leiten ein Forschungsprojekt, das untersucht, warum Kunden sich von ihrem Finanzberater abwenden. Ist das Ihrer Erkenntnis nach ein verbreitetes Problem für Berater?
Georgios Lekkas: Ja, das Risiko der Kundenflucht ist eine der größten Sorgen eines Beraters. Schließlich investieren Berater Zeit, um Beziehungen zu ihren Kunden aufzubauen – und das Akquirieren neuer Kunden ist kostspielig. Doch es besteht immer die Möglichkeit, dass Klienten die Angebote anderer Berater gleichermaßen interessant finden.
DAS INVESTMENT: Was sind Ihrer Beobachtung nach die häufigsten Auslöser?
Georgios Lekkas: Befragungen von Fachleuten haben ergeben, dass der Hauptgrund, warum Kunden eine Beraterbeziehung beenden, die nicht zufriedenstellende Performance des angelegten Portfolios ist. Das überrascht wenig. Andere Marktforschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass die häufigsten Gründe für einen Wechsel des Beraters das Niveau der Finanzberatung und der angebotenen Dienstleistungen, die Qualität der Zusammenarbeit und die Kosten der Serviceleistungen sind. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass während des gesamten Kundenlebenszyklus zeitnah und individuell auf die Anliegen und Bedürfnisse der Kunden eingegangen wird.
DAS INVESTMENT: Wie gehen Sie konkret vor, um Kunden zu identifizieren, die möglicherweise auf dem Absprung sind?
Georgios Lekkas: Wir haben die uns zur Verfügung stehenden Daten genutzt, um Modelle für maschinelles Lernen zu entwickeln, die Vorhersagen treffen können, ob ein Kunde fluchtgefährdet ist oder nicht. Dabei verwendeten wir neun Teile der Daten, um den Algorithmus zu trainieren, führten den Algorithmus dann aus und verglichen seine Ergebnisse mit den verbliebenen zehn Prozent der nicht verwendeten Daten. Dieser Prozess wurde mehrfach wiederholt und mit verschiedenen maschinellen Lernmodellen durchgeführt. Natürlich können wir nicht im Voraus sagen, welches Modell sich am Ende des Prozesses als das beste erweist.
DAS INVESTMENT: Auf welche Datenbasis stützen Sie sich bei dieser Untersuchung?
Georgios Lekkas: Wir haben alle Kundendaten verwendet, die einer Bank zur Verfügung stehen, so beispielsweise die Höhe der Anlagen, die Anzahl und Art der angebotenen Produkte, die Anlageperformance über mehrere Zeithorizonte, Einlagen und Abhebungen und vieles mehr. Wir haben auch öffentlich zugängliche Daten wie die Marktentwicklung oder das Verbrauchervertrauen herangezogen, da dies Faktoren sind, die das Denken der Kunden beeinflussen könnten. Ist die absolute Anlageperformance ausschlaggebend oder ist es die Performance im Vergleich zu anderen?
DAS INVESTMENT: Sie versprechen, innerhalb Ihrer Prozesse ebenfalls die Blackbox, in der KI gemeinhin arbeitet, transparent zu machen. Wie geschieht das?
Georgios Lekkas: Es ist notwendig, die Entscheidungsprozesse von KI-Systemen offenzulegen, um Verzerrungen, sogenannte Biases, abzuschwächen und Fehler zu vermeiden. Wir verwenden eine Methode, die aus der Spieltheorie stammt und vor einigen Jahren veröffentlicht wurde. Sie quantifiziert den Beitrag der einzelnen Eingaben zum Endergebnis. Wenn wir wissen, welche Faktoren am meisten zur Vorhersage beigetragen haben, können wir einem Benutzer die Ergebnisse des Modells erklären.
DAS INVESTMENT: Welche Hinweise bekommt ein Berater konkret, wenn die KI entdeckt, dass ein Kunde möglicherweise zum Wackelkandidat wird?
Georgios Lekkas: Die Berater erhalten eine Liste der Kunden, die nach Ansicht des Systems zur Abwanderung tendieren. Die Vorhersage wird durch eine Liste von Faktoren und deren Gewichtung gestützt. Kritisch wird es zum Beispiel, wenn der Faktor „Kontoperformance im Verhältnis zum Markt“ einen Wert vorn 0,12 erreicht oder der Faktor „Anzahl der erstatteten Fonds“, also die Anzahl der Desinvestitionen, bei 0,18 liegt und so weiter. Der Berater kann somit sehen, warum das System einen bestimmten Kunden als gefährdet einstuft.
DAS INVESTMENT: Wie kann er dem entgegenwirken?
Georgios Lekkas: Das System wirft ein Spotlight auf bestimmte Kunden und macht den Berater auf Fälle aufmerksam, die sonst möglicherweise unentdeckt bleiben. Es obliegt dem Berater zu entscheiden, was als Nächstes zu tun ist: An diesem Punkt kann die prädiktive künstliche Intelligenz dem Berater helfen, die „next best action“ auf der Grundlage der Kundenpräferenzen und unter Berücksichtigung mehrerer weiterer Faktoren schneller zu ermitteln.
DAS INVESTMENT: Forschen Sie nur im Feld der Finanzberatung oder auch bei anderen Dienstleistungen?
Georgios Lekkas: Wir arbeiten auch an der Lösung von Problemen im Back Office. Wir nutzen Computer Vision und intelligente Dokumentenverarbeitung, um Informationen aus Verträgen, Bestellformularen und Ähnlichem zu extrahieren. Die Automatisierung dieser Art von Aufgaben ist inzwischen ausgereift. Ein neue Forschungsrichtung ist die Nutzung generativer KI zur Extraktion von Informationen aus regulatorischen Dokumenten unter Verwendung von Large Language Models (LLMs), wie sie von Open AI und Meta entwickelt wurden. Wir glauben, dass diese Art von Anwendung genau das ist, was diese Modelle leisten können, ohne die Kontroversen, die in anderen Bereichen wie Urheberrecht, Ethik und so weiter auftreten. LLMs können die Komplexität der menschlichen Sprache bewältigen und die Produktivität und Qualität der Arbeit im Backoffice steigern.